Die Bezeichnung „bürgerliches Trauerspiel“ tauchte zum ersten Mal 1750 in einer von Lessing und Christlob Mylius herausgegebenen Zeitschrift mit dem Titel „Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters“ auf. Darin wurde ein Artikel über Voltaires Tragikomödie „Nanine“ (1749) abgedruckt, welcher selbst eine Übersetzung aus dem Französischen darstellte. Im Original fand der französische Terminus „tragédie bourgeoise“ Verwendung, welcher bereits Jahre zuvor gebraucht wurde. Vermutlich handelte es sich bei dieser frühen französischen Verwendung um eine Bezeichnung für eine Gattung, die Scherz und Ernst vereinte.5 In Deutschland blieb der Begriff „bürgerliches Trauerspiel“ in den folgenden 1750er Jahren noch vielfach unbestimmt und der Bedeutungsinhalt teilweise schwankend und verwirrend, sodass zunächst keine wirklich allgemein gültige Verwendung ausgemacht werden konnte. So wurden mit diesem Namen „Komödie[n] bezeichnet, in der Personen auftreten, die nicht heroisch aber auch nicht pöbelhaft sind“6 . Auch wurde der Ausdruck zunächst „bedeutungsidentisch mit dem rührenden Lustspiel“7 , als Alternative zu „Tragikomödie“ oder aber als äquivalent zu „comédie larmoyante“ verwendet. Eine weitere Schwierigkeit mit dem Begriff „bürgerliches Trauerspiel“ tritt in Verbindung mit der Wortbedeutung von „bürgerlich“ auf. So meint „bürgerlich […] also nicht primär den Stand, sondern die Lebensweise, die Gesinnung“8 , stellte Karl Guthke fest. „Bürgerlich“ kann demnach soziologisch auf den Stand der Bürgerlichen verweisen, aber auch als allgemeine Bezeichnung für „privat, häuslich, familiär im Gegensatz zum GeschichtlichPolitischen, Öffentlichen und Heroischen“9 verwendet werden. Hierbei muss jedoch zwischen der Herkunft der bürgerlichen Trauerspiele unterschieden werden, um die eigentliche Hauptbedeutung von „bürgerlich“ erkennen zu können. In George Lillos Drama „The London merchant“, welches von Henning Adam von Bassewitz als „Der Kaufmann von London“ übersetzt wurde, hat „bürgerlich“ – aufgrund seines englischen Ursprungs – einen sozialständischen Sinn. Bei Lessings „Sara Sampson“ dagegen spielt der Standesbegriff im „bürgerlichen“ eine deutlich untergeordnete Rolle. Hier bezeichnet dieser vielmehr die 5 Vgl. Guthke: Bürgerliche Trauerspiel, S.5-6. 6 Wierlacher: Bürgerliche Drama, S.32. 7 Guthke: Bürgerliche Trauerspiel, S.6. 8 Ebd., S.13. 9 Ebd., S.9. - 4 - Darstellung der Charaktere, also als menschliche Personen mit ihren privaten, häuslichen und familiären Problemen oder Schicksalen. Der „soziologische Sinn [von ‚bürgerlich’ kann] nur auf die Situation in England bezogen werden […], wo die gesellschaftliche und ökonomische Emanzipation entschiedenere Formen angenommen hatte als in den deutschsprachigen Territorien.“10 – Es kann also festgehalten werden, dass nach Guthke das Wort „bürgerlich“ im „bürgerlichen Trauerspiel“ keineswegs zwangsläufig die Standeszugehö- rigkeit der handelnden Personen widerspiegelt, sondern – besonders im deutsprachigen Raum – vornehmlich die Inhalte der Dramen nach ihrer Qualität beschreibt. Das bereits erwähnte Drama „The London merchant“ von George Lillo wurde 1731 in englischer Sprache geschrieben und später zunächst von Clément als „Le Marchand de Londres, ou l’histoire de Georg Barnwell“ in das Französische übersetzt. Henning Adam von Bassewitz übersetzte wiederum das Werk, ausgehend von der französischen Übersetzung, in die deutsche Sprache. Es wurde in Deutschland 1752 als „Der Kaufmann von London, oder Begebenheiten Georg Barnwells“ veröffentlicht.11 Lillos Drama gilt heute „als wichtigster Prototyp des bürgerlichen Trauerspiels“12, da es bereits wichtige und entscheidende Merkmale der neuen Gattung aufweist. Diese galten zur Zeit der Veröffentlichung als ungebräuchlich und neu. Die handelnden Personen stammen allesamt aus dem bürgerlichen Stand, die Sprache ist durchgängig in Prosa gehalten und mit seinen wechselnden Schauplätzen und der mangelnden Zeiteinheit verstößt es gegen die klassische Dramennorm. Die dargestellte Handlung ist lebensnah, wahrscheinlich und realistisch und überrascht mit seiner „strafbaren Handlungen auf dem Hintergrund bürgerlichen Lebens […, welche] ein fast rein kriminalistisches Drama“13 ergibt. „Der Kaufmann von London“ erzielte beim deutschen Publikum eine beeindruckende Wirkung, setzte Gefühle frei und konnte durch die Erzeugung von Mitleid den Zuschauern viele Tränen entlocken.14