In diesem letzten Kapitel sollen nun beispielhaft einige wenige Merkmale und Besonderheiten des bürgerlichen Trauerspiels konkret an Lessings „Miß Sara Sampson“ aufgezeigt werden. Das gesamte Drama ist, wie für ein bürgerliches Trauerspiel üblich, in Prosa geschrieben. Der Inhalt entstammt der Erfindung (und Inspiration) des Autors und die handelnden Personen gehören dem Mittelstand, also den Bürgerlichen und dem niederen Adel, an.45 Somit sind die zwei bzw. drei entscheidenden Kriterien, die nach Pfeil ein bürgerliches Trauerspiel ausmachen, erfüllt. Natürlich machen allerdings noch andere Merkmale den besonderen Status von „Miß Sara Sampson“ und deren Bedeutung für das bürgerliche Trauerspiel aus. Die von Lessing verfolgte und bereits in dieser Arbeit mehrfach beschriebene Erregung von Mitleid ist auch die Absicht dieses Dramas. Das wird an unzähligen Textstellen deutlich. Zum Beispiel ist „die Anfangsituation, daß nämlich ein Liebhaber eine Frau verlassen und sich einer anderen zugewandt hat […] ziemlich alltäglich.“46 Viele Zuschauer können sich in diese Lage Mellefonts hinein versetzten. Ähnlich sieht es mit dem Verhalten der anderen Figuren des Dramas und den entscheidenden Fehlern, die die Handlung voran schreiten lassen, aus. Durch die dargestellten Affekte werden diese weiter und weiter in ihrer Dramatik fortgeführt. Sir William Sampson bringt das junge Paar dazu ihn zu verlassen, da er Mellefont kein Vertrauen schenkt. Sara erhebt Vorwürfe gegenüber Mellefont und erleichtert dadurch nicht gerade deren Beziehung. Mellefont schafft es nicht, in seine Beziehung zu Marwood eindeutige Verhältnisse zu bringen und lädt sie sogar zu einem Besuch bei Sara ein. Marwood entwickelt Eifersucht und Rachedurst und möchte Mellefont bestrafen; hierfür sind ihr letztendlich alle Mittel recht, auch der Mord an Sara. Diese Liste ist fast beliebig erweiterbar; die genannten Beispiele haben alle den gleichen Effekt. Die Zuschauer sehen die Fehler und Schwächen der Protagonisten als menschlich, also als bürgerlich an, und können sich daher mit den Figuren identifizieren. Durch diese Identifikation erzeugt Lessing die gewünschte massive Erregung von Mitleid (siehe Ausführungen in Kapitel 2.3). Diese Mitleidserregung wird besonders dadurch verstärkt, dass die Protagonisten auf der Bühne ebenfalls selbst leiden. So z.B. in der ersten Szene Sir William, der seine Tränen nicht zurückhalten kann.47 Peter-André Alt stellt daher fest: „Das Trauerspiel ist nicht nur Spiel vor Mitleidigen und Gerührten, wie es das Gebot der Wirkungspoetik verlangt, es zeigt seinerseits auch mitleidsfähige und gerührte Figuren.“48Die realistische und menschliche Wirkung der handelnden Figuren erreicht Lessing ferner dadurch, dass „man keine ganz schlechten und auch keine ganz guten Charaktere entwerfen dürfe“49. Denn es „kann weder ein vollkommen tugendhafter noch ein vollkommen lasterhafter Mensch Mitleid erwecken, sondern allenfalls Bewunderung oder Abscheu.“50 Und dies ist nicht die Absicht oder der Anspruch eines bürgerlichen Trauerspiels.