Die Frage nach dem ersten deutschen bürgerlichen Trauerspiel scheint auf den ersten Blick sehr schnell und eindeutig beantwortet werden zu können. Im Artikel „Bürgerliches Trauerspiel“ des „Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft“ ist vermerkt: „das erste deutsche Original der Gattung ist Lessings ‚Miß Sara Sampson’.“37 Bei weiterer Literaturrecherche findet man jedoch vermehrt Hinweise darauf, dass diese Aussage keine uneingeschränkte Gültigkeit besitzt. So schreibt konkret Karl S. Guthke in „Das deutsche Trauerspiel“: „Die Ehre, daß erste deutsche bgl. Tr. zu sein, hat Richard Daunicht vor kurzem ‚Miß Sara Sampson’ streitig gemacht mit dem Hinweis auf Christian Leberecht Martinis ‚Rhynsolt und Sapphira’.“38 Daunicht präsentiert die dazugehörigen Untersuchungen in seinem Werk „Die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels in Deutschland“, welches 1963 veröffentlicht wurde. Hier schreibt er ziemlich eindeutig und unmissverständlich, dass es sich nach seinen Erkenntnissen und Nachforschungen bei Martinis „Rhynsolt und Sapphira“ um das erste deutsche bürgerliche Trauerspiel handelt: Daunicht bezeichnet es als den „Verdienst Martinis, der erste gewesen zu sein“39 . Es gelingt Daunicht in seinem Werk die Entstehungszeit des Dramas „Rhynsolt und Sapphira“ mit ziemlicher Sicherheit einzugrenzen. Den frühesten Zeitpunkt sieht er im Jahre 1751, den spätesten Zeitpunkt macht er im Jahre 1753 aus. Am 2. Juni 1753 hatte Martini in einer Versammlung der Schönemannschen Schauspielerakademie sein Stück vorgestellt. Nach seinen Überlegungen datiert Daunicht die Entstehung des Dramas in das Frühjahr 1753. Lessings „Miß Sara Sampson“ dagegen entstand zwei Jahre später, im Jahre 1755. Als Ursache für den Irrtum, Martini hätte mit seinem Werk „Rhynsolt und Sapphira“ eine Nachahmung von „Miß Sara Sampson“ geschrieben, macht Daunicht dessen Erstruck im Jahre 1755 aus. Folglich wurde von den ersten Geschichtsschreibern schnell das Jahr 1755 als Entstehungsjahr von „Rhynsolt und Sapphira“ vermerkt.40 Von der bereits erwähnten Schönemannschen Schauspielertruppe, zu der auch Martini als Darsteller gehörte, wurde das Stück vermutlich bereits im Jahre 1753 erstmalig vor der Herzogin von Mecklenburg-Schwerin aufgeführt. Daunicht hält fest: „Das Datum ist deshalb so bemerkenswert, weil es die überhaupt erste Aufführung eines bürgerlichen Trauerspiels in Deutschland bezeichnen würde“41 . Dass das Drama „Rhynsolt und Sapphira“ vor „Miß Sara Sampson“ entstanden ist, ist von Daunicht also eindeutig belegt worden und wird auch zum Beispiel von Karl Guthke nicht angezweifelt. „Ob es folglich auch als erstes Exemplar der neuen Gattung [‚bürgerliches Trauerspiel’] anzusehen ist, ist jedoch eine andere Frage.“42 Guthke führt an, dass das Werk „Rhynsolt und Sapphira“ sich selbst mit seinem Untertitel nicht als bürgerliches Trauerspiel deklariert und auch inhaltlich nicht den Ansprüchen und Merkmalen eines solchen gerecht wird. Richard Daunicht bewertet den Inhalt des Dramas jedoch etwas anders, auch wenn er dessen „nüchterne“ Wirkung im Vergleich zu „Miß Sara Sampson“ zustimmt.43 Die Frage, ob „Rhynsolt und Sapphira“ als bürgerliches Trauerspiel betitelt werden kann, wird an dieser Stelle nicht endgültig zu klären sein. Hierzu bedarf es einer intensiven Literaturrecherche und natürlich einer eingehende Betrachtung der Originalausgabe des Dramas. Festzuhalten bleibt jedoch, dass „Miß Sara Sampson“ nicht als das erste deutsche bürgerliche Trauerspiel zu bezeichnen und – zumindest nach der Entstehungszeit – das Drama „Rhynsolt und Sapphira“ früher zu datieren ist.44