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Kommen wir nun zu der Frage, was das bürgerliche Trauerspiel ausmacht. Was sind die Kennzeichen und Besonderheiten, um eine eigene Gattungsbezeichnung zu erlangen? Natürlich kann man nicht davon ausgehen, dass sich die entsprechenden Werke fast selbstständig und intuitiv mit dem Titel schmücken oder aber, dass in ihnen „überall Gesinnung und Lebensgefühl des Bürgertums zum Ausdruck komme“15, so wie es Guthke provokant formulierte. Bereits die damaligen Vertreter und Theoretiker der Gattung beschäftigten sich mit dieser Fragestellung. Nach und nach wurden zu Beginn der 1750er Jahre die ersten Versuche unternommen, die Bezeichnung „bürgerliches Trauerspiel“ genauer zu fassen und theoretisch zu bestimmen. Lessing konnte in der Vorrede aus der „Theatralischen Bibliothek“ (1754) erstmals dem Terminus eine klarere Bedeutung zuweisen. „Ein ‚bürgerliches Trauerspiel’ ist für Lessing, anders als für Gottsched und Schlegel, keine Fortentwicklung der Komödie, sondern eine modifizierte Variante der alten Tragödie. Seinen Ursprung markiert das tragische Genre, nicht das komische“16 . Johann Gottlob Benjamin Pfeil präsentiert 1755 mit seiner Abhandlung „Vom bürgerlichen Trauerspiele“ erste theoretische Überlegungen zur neuen Gattung. Gleich zu Beginn des Textes bricht der Verfasser mit den Beschreibungen des Trauerspiels nach Aristoteles, wonach nur vornehme und hochgestellte Personen die Hauptrolle in einem solchen ausfüllen könnten. Vielmehr ist für Pfeil das bürgerliche Trauerspiel „die Nachahmung einer Handlung […], wodurch eine Person buergerlichen Standes auf dem Theater als ungluecklich vorgestellt wird.“17 Allgemein erklärt Pfeil weiter, „ist die Hauptabsicht des Trauerspiels […], Schrecken und Mitleid zu erwecken, oder wenn man lieber will, die Tugend auch ungeachtet ihres Ungluecks liebenswuerdig und das Laster allezeit verabscheuungswuerdig vorzustellen.“18 Dies trifft zunächst auf alle Trauerspiele zu; erst im weiteren Verlauf des Textes wird das bürgerliche Trauerspiel gegenüber dem heroischen sowie dem lyrischen Trauerspiel weiter abgegrenzt. Betrachtet man die gesamte Abhandlung „Vom bürgerlichen Trauerspiele“ fällt auf, dass das bürgerliche Trauerspiel zu dieser Zeit, also um 1755, einem starken Legitimationsdruck ausgesetzt zu sein schien. Gerade Pfeil lässt eine Rechtfertigung des Daseins der neuen Gattungsbezeichnung erkennen und versucht dieser mit seiner Abhandlung gerechtzu werden.19 Hierzu ist es notwendig, das bürgerliche Trauerspiel weiter von anderen Dramengattungen bzw. der tragischen Dichtkunst abzugrenzen. Dies möchte Pfeil mit der Darstellung zweier besonderer Kennzeichen erzielen. Zum ersten sieht er den Inhalt der bürgerlichen Trauerspiele als frei erfunden an und legt ihnen „die Erdichtung allein zum Grunde“20. Dies wird als großer Vorteil angesehen, da so der Dichter zahlreiche Freiheiten besitzt, seine Charaktere und die Handlung zu gestalten: „seine Personen duerfen nicht wahr, sondern nur moeglich und wahrscheinlich seyn“21. Der Stoff der lyrischen oder heroischen Trauerspiele dagegen stammt aus der wahren Geschichte oder bereits bekannten Fabeln. Das zweite Merkmal zur Abgrenzung des bürgerlichen Trauerspiels betrachtet den Stand der handelnden Figuren. So schreibt Pfeil: „Das lyrische Trauerspiel erhebt sich bis zu Goettern und Helden, das heroische bis zu den Helden, allein das buergerliche schraenket sich bloß in die Schranken des buergerlichen Standes ein.“22 Wichtig ist ihm weiter, dass dieser Mittelstand sich weiter auf den „gemeinen Adel mit ausdehnet, [sich] von dem Poebel aber […] absondert“23. Aus den Kreisen des Pöbels könnte niemals eine handelnde Person entstehen, so heißt es in der Abhandlung, da die fehlende Erziehung beim bürgerlichen Publikum nicht akzeptiert werden würde. Zu guter Letzt formuliert Pfeil noch ein drittes Kennzeichen, durch welches sich das bürgerliche Trauerspiel von anderen Gattungen tragischer Dichtkunst unterscheidet: „naemlich dass das buergerliche Trauerspiel jederzeit prosaisch, die andern Gattungen aber poetisch abgefaßt wuerden“24. Er zweifelt jedoch selbst an dieser Aussage als sicheres Merkmal, da bereits vereinzelt heroische Werke in Prosa verfasst wurden und sich im Gegensatz dazu noch kein Dichter an einem bürgerlichen Trauerspiel in poetischer Schreibweise versucht hat. Auf jeden Fall sieht der Verfasser die Prosa als am besten geeignet für das bürgerliche Trauerspiel an, da bereits durch das Altertum die Poesie zur Sprache der Götter und Helden erhoben wurde. Dies wäre für eine handelnde Person in einem bürgerlichen Trauerspiel äußerst ungeeignet, da sie sich möglichst authentisch, realistisch und gemäß ihrer Zugehörigkeit zur Mittelschicht artikulieren sollte. Gleichzeitig gibt Pfeil jedoch zubedenken, die verwendete „Sprache […] allemal noch Poesie seyn [muss]. Es giebt eine gewisse Prose, welche ueber die ordentliche dialogische Prose im gemeinen Leben erhaben ist.“25 Die Kunst des Autors ist es, diese poetische Sprache mit seiner Schreibart zu treffen. Pfeil geht im Verlauf seiner Abhandlung noch etwas genauer auf die Auswahl der handelnden Personen in einem bürgerlichen Trauerspiel ein. Es müssen bürgerliche Charaktere sein und der Pöbel ist, wie bereits oben erwähnt, von dieser Rolle ausgeschlossen. Auch Götter und Helden sowie der hochgestellte Adel können nicht als Hauptfiguren in einem bürgerlichen Trauerspiel auftreten, da ihr Schicksal von den Rezipienten nicht authentisch genug miterlebt werden kann. Es wirkt unglaubhaft und es ist keine ausreichende Identifikation mit den Charakteren möglich. Und genau das ist die zentrale Absicht in einem bürgerlichen Trauerspiel: die Erregung von Mitleid, welche durch die Identifikation des Rezipienten mit den handelnden Personen erzeugt wird. So schreibt Pfeil weiter: „Ich behaupte, daß das buergerliche Trauerspiel erstlich unser Herz weit staerker ruehrt und hernach auch weit eher zu bessern fähig ist, als die uebrigen Gattungen der Schaubuehne.“26 Die Probleme, Laster und Schwächen der auf der Bühne dargestellten bürgerlichen Charaktere versetzen den bürgerlichen Zuschauer intensiver in das Schicksal und das Leiden der Protagonisten hinein. Sie nehmen Anteil an dem Schicksal und entwickeln Mitleid. Durch die Aufklärung des Verstandes kommt es zu einer „Besserung des Herzens“27, welche „wiederum in einer verbesserten und verfeinerten Affektenkontrolle“28 mündet. Erleidet ein Prinz oder eine andere heldenhafte Hauptfigur in einem heroischen Trauerspiel einen Unglücksfall, so wird dies nicht annähernd diese Rührung und Mitleid erzeugen, wie dies ein bürgerliches Trauerspiel bei bürgerlichen Rezipienten verursacht. Dies wird im folgenden Zitat aus „Vom bürgerlichen Trauerspiele“ deutlich: Die Ungluecksfälle die wir hier erblicken, haben wir oft selbst empfunden, oder wir sind sie doch noch wenigstens alle Tage zu empfinden fähig. Wir kennen also die Last derselben genau. Wir bedauren in den ungluecklichen Personen oft uns selbst. Wir sind desto verschwenderischer mit unserm Mitleid gegen sie, weil wir es fuer billig halten, daß man es auch gegen uns nicht spare, wenn wir wirklich dergleichen Ähnlich wie das heroische Trauerspiel wird auch das Lustspiel von Pfeil nicht als ebenbürtig – in Bezug auf die Erregung von Mitleid und die Disziplinierung der Leidenschaft – mit dem bürgerlichen Trauerspiel eingeschätzt. Im Lustspiel wird eher versucht, das Laster in das Lächerliche zu ziehen. Pfeil sieht darin jedoch das Problem begründet, dass die Zuschauer im Theater über diese Laster lachen und sobald sie die Theater verlassen, diese jedoch selbst durchleben. Er begründet seine Haltung damit, das „eine Sache hoeret auf laecherlich zu seyn, so bald das Laecherliche derselben nicht mehr oeffentlich wahrgenommen wird“30 . Zusammenfassend ist zu sagen, dass das bürgerliche Trauerspiel seine handelnden Personen aus dem Mittelstand, also „zwischen dem Pöbel und den Großen […], kurz, Jedweder, der Gelegenheit gehabt hat, sein Herz zu verbessern, oder seinen Verstand aufzuklaeren“31 , auswählen muss. Nur so können die Absichten des bürgerlichen Trauerspiels, Schrecken, Rührung und Mitleid zu erregen, erreicht werden. Bezieht man diese standesorientierte Erkenntnis auf das Katharsistheorem, muss festgehalten werden, dass die „Katharsis […] zwar nicht mehr ein gattungsdistinktes Merkmal sein [muss], […] sie […] aber sozialdistinkt“32 ist. Um die Betrachtung der Merkmale und Besonderheiten des bürgerlichen Trauerspiels abzuschließen, soll an dieser Stelle ergänzend auf die Sichtweise von Gotthold Ephraim Lessing eingegangen werden. Wie von Pfeil ebenfalls beschrieben, war für Lessing „die Identifikation mit dem Helden […] eine Voraussetzung“33 für die Sensibilisierung des Zuschauers. Entscheidende Absicht des bürgerlichen Trauerspiels war für ihn hierfür die Erregung von Mitleid. Daher bezeichnete Lessing das Mitleid als primären Affekt, alle anderen Affekte wurden als sekundäre Affekte betitelt. Schreck oder Bewunderung, welche beim Zuschauer eines bürgerlichen Trauerspiels ebenfalls hervorgerufen werden können, deutete er als „Äußerungen des Mitleids: Schrecken auf sich selbst bezogenes Mitleid des Zuschauers, Bewunderung entbehrlich gewordenes Mitleid“34. Lessing definierte „Mitleid“ als die Vermischung zweier Gefühle: „dem der Liebe zu einem Gegenstand oder einer Per-Ungluecksfälle erfahren sollten. 29son und dem Schmerz über dessen Verlust bzw. deren Unglück“35. Die Empfindungen des Publikums zu steigern war demnach die „moralische Absicht“ des bürgerlichen Trauerspiels. So sollten die Zuschauer durch die mitleidigen Empfindungen mit der Hauptperson des Trauerspiels – in Form des Schreckens als Affekt – in einen Zustand der Sensibilisierung gegenüber ihren anderen Mitmenschen erhoben werden.36

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